Zeitmaschine: 125. Geburtstag von Martin Wagenschein

Enge Beziehung mit der Technischen Hochschule Darmstadt

10.12.2021 von

Vor 125 Jahren wurde der Physiker und Reformpädagoge Martin Wagenschein geboren. Ihn verband eine enge Beziehung mit der Technischen Hochschule Darmstadt.

Martin Wagenschein war ein Vorreiter der Interdisziplinarität und erprobte neue pädagogische Methoden über Fächergrenzen hinweg.

Martin Wagenschein wurde am 3. Dezember 1896 in Gießen geboren, wo er 1914 Abitur machte. Im Ersten Weltkrieg war er im Dienst des Roten Kreuzes tätig und studierte an der Gießener Universität Mathematik, Physik und Geografie. 1918 setzte er sein Studium an der Universität Freiburg fort und bestand im Februar 1920 das Erste Staatsexamen. Schon im Juli 1920 schloss Wagenschein seine Promotion »Experimentelle Untersuchung über das Mitschwingen einer Kugel in einer schwingenden Flüssigkeits- und Gasmasse« ab. 1920/21 bekleidete er eine Assistentenstelle am Physikalischen Institut der Universität Gießen. 1921 bis 1923 folgte die pädagogische Ausbildung in Darmstadt, Worms, Friedberg, Gießen und Bad Nauheim, 1923 das Zweite Staatsexamen für das höhere Lehramt. Zwischen 1924 und 1933 war Wagenschein vom Staatsdienst beurlaubt und unterrichtete an der von Paul Geheeb gegründeten reformpädagogischen Odenwaldschule – eine für seine Pädagogik nachhaltig prägende Zeit.

Von 1933 bis 1957 war Wagenschein im Schuldienst im Darmstädter Raum tätig. Zwar war er seit 1933 Mitglied bei der NS-Volkswohlfahrt und im NS-Lehrerbund, seit 1938 Mitglied der NSDAP, doch wurde er 1948 als »entlastet« eingestuft, unter anderem, weil er in seinem Unterricht »unauffällig aber wirksam dem Nationalsozialismus und seinen Zielen entgegen[wirkte]«.

1957 wurde Wagenschein vorzeitig in den schulischen Ruhestand versetzt, um sich ganz der Ausbildung von Lehrkräften widmen zu können. So unterrichtete er zwischen 1949 und 1963 am Pädagogischen Institut in Jugenheim »Naturwissenschaftliche Erkenntnispsychologie« und zwischen 1963 und 1972 an der Frankfurter Hochschule für Erziehungswissenschaft beziehungsweise Goethe-Universität »Didaktik der exakten Naturwissenschaften«. 1956 erhielt er eine Honorarprofessur an der Universität Tübingen.

Eine besonders lange und enge Beziehung verband Wagenschein mit der Technischen Hochschule Darmstadt: 35 Jahre lang, von 1952 bis 1987, übte er einen Lehrauftrag für »Praktische Pädagogik« aus und unterrichtete viele Generationen von Studierenden aller Fachrichtungen. Sein Wirken honorierte die TH 1978 mit der Verleihung einer Ehrendoktorwürde. Wagenschein starb am 3. April 1988 in Trautheim.

Reformierte und interdisziplinäre pädagogische Methoden

Martin Wagenschein verwehrte sich gegen eine letztlich nur Scheinwissenschaft produzierende einseitige Belehrung von Schülerinnen und Schülern. Ein am Verstehen der (Natur-)Wissenschaften orientierter Schulunterricht kann seiner Auffassung nach nur gelingen, wenn er in Form des sokratischen Gesprächs an konkreten, für die Wissenschaft typischen Beispielen und ausgehend von den Naturphänomenen Wissen entstehen und werden lässt – er nennt es das »genetisch-sokratisch-exemplarische Lehren und Lernen«. Er erprobte seine Methode als Lehrer verschiedenster Schulformen und vermittelte sie den angehenden Lehrkräften. Ein besonderes Anliegen war ihm stets das Denken über die Fächergrenzen hinweg, was ihn zu einem Vorreiter der Interdisziplinarität werden ließ.

Wagenschein hatte testamentarisch bestimmt, dass sein umfangreicher wissenschaftlicher Nachlass in der von Geheeb 1934 gegründeten Reformschule Ecole d’Humanité in der Schweiz aufbewahrt werden sollte, an der das Ehepaar Wagenschein häufig zu Gast war. Ebenso wie der Geheeb-Nachlass konnte das Wagenschein-Archiv dort teilweise erschlossen werden. Nachdem sich die Schule nicht mehr in der Lage sah, die Nachlässe adäquat zu betreuen, erhielt das Hessische Staatsarchiv Darmstadt den Geheeb-Nachlass als Schenkung (Bestand: HStAD O 37). Im Frühjahr 2021, und demnach im Jahr seines 125. Geburtstags, erhielt die TU Darmstadt den Wagenschein-Nachlass als Schenkung. Wagenscheins Vorlesungsskripte, Sonderdrucke, Korrespondenzen, Fotos, Fotoalben und Bücher werden seit November 2021 im Universitätsarchiv erschlossen und stehen künftig Forschenden und Lehrenden der TU Darmstadt sowie der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung.