Wie lange dauerte die Entstehung unserer Sonne?

Lange angestrebte Messung zur Bestimmung der Zeitskala der Sonnenentstehung durchgeführt

14.11.2024

Wie lange hat eigentlich die Bildung unserer Sonne in ihrer stellaren Kinderstube gedauert? Eine internationale Kollaboration von Forschenden unter Beteiligung der TU Darmstadt ist einer Antwort nun nähergekommen. Ihr gelang am Experimentierspeicherring (ESR) des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung/FAIR eine besondere Messung, die zur Bestimmung der Sonnenentstehungszeit genutzt werden kann. Die Ergebnisse wurden nun in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Künstlerische Darstellung eines AGB-Sterns, der sich mit dem frühen Sonnensystem vermischt

Aktuelle Berechnungen gehen davon aus, dass die Entstehung unserer Sonne aus der Vorläufer-Molekülwolke einige zehn Millionen Jahre gedauert hat. Die Forschenden leiten diese Zahl aus langlebigen Radionukliden ab, die kurz vor der Entstehung der Sonne durch den sogenannten astrophysikalischen s-Prozess erzeugt wurden. Der s-Prozess fand in der Nachbarschaft der Sonne statt, in Sternen mit mittlerer Masse, die sich am Ende ihres Brennzyklus befinden, und die sich auf dem asymptotischen Riesenast (engl. asymptotic giant branch oder kurz AGB) befinden. Die Radionuklide, die seit der Geburt der Sonne vor 4,6 Milliarden Jahren längst zerfallen sind, haben ihre Spuren in Meteoriten hinterlassen, wo sie nun nachgewiesen werden können. Der ideale Kandidat ist ein Radionuklid, das ausschließlich durch den s-Prozess erzeugt wird und keine Verunreinigungen durch andere Nukleosyntheseprozesse aufweist. Ausschließlich das „reine-s-Kern” Blei-Isotop 205Pb erfüllt diese Eigenschaften.

Auf der Erde zerfällt 205Pb zu 205Tl (Thallium-Isotop), indem sich eines seiner Protonen und ein atomares Elektron in ein Neutron und ein Elektron-Neutrino umwandeln. Der Energieunterschied zwischen 205Pb und seiner Tochter 205Tl ist so gering, dass die größeren Bindungsenergien der Elektronen in 205Pb (mit der Ladung Z=82 im Vergleich zu nur 81 Elektronen in 205Tl den Ausschlag geben. Mit anderen Worten: wenn alle Elektronen entfernt werden, kehrt sich die Rolle von Tochter und Mutter beim Zerfall um und 205Tl erfährt einen Beta-Minus-Zerfall zu 205Pb Dies geschieht in AGB-Sternen, wo die Temperaturen von einigen 100 Millionen Kelvin ausreichen, um die Atome vollständig zu ionisieren. Die Menge an 205Pb die in AGB-Sternen erzeugt wird, hängt entscheidend von der Geschwindigkeit ab, mit der 205Tl zu 205Pb zerfällt. Dieser Zerfall kann jedoch unter normalen Laborbedingungen nicht gemessen werden, da 205Tl in diesem Zustand stabil ist.

Stellares Wippenpaar als große Unbekannte

Erstautor der Publikation Guy Leckenby bei der Arbeit am Speicherring ESR bei GSI/FAIR
Erstautor der Publikation Guy Leckenby bei der Arbeit am Speicherring ESR bei GSI/FAIR

Der Zerfall von 205Tl ist energetisch nur beobachtbar, wenn das erzeugte Elektron in einem gebundenen Atomorbital von 205Pb eingefangen wird. Dies ist ein äußerst seltener Zerfallsmodus, der als gebundener Betazerfall bekannt ist. Außerdem führt der Kernzerfall zu einem angeregten Zustand in 205Pb, der nur um winzige 2,3 Kiloelektronenvolt über dem Grundzustand liegt, aber gegenüber dem Zerfall in den Grundzustand stark bevorzugt wird. Das 205Tl-205Pb-Paar kann man sich als stellares Wippenmodell vorstellen, da beide Zerfallsrichtungen möglich sind und der Gewinner von den stellaren Umgebungsbedingungen wie Temperatur und (Elektronen-)Dichte abhängt – und von der Stärke des Kernübergangs, die die große Unbekannte in diesem stellaren Wettbewerb darstellte.

Diese Unbekannte wurde nun in einem ausgeklügelten Experiment von einem internationalen Team von Wissenschaftler:innen aus 37 Institutionen und zwölf Ländern entschlüsselt. Der gebundene Beta-Zerfall ist nur möglich, wenn der zerfallende Kern von allen Elektronen befreit und mehrere Stunden lang unter diesen außergewöhnlichen Bedingungen gehalten wird. Dies ist weltweit nur am Schwerionen-Experimentierspeicherring von GSI/FAIR in Kombination mit einem Fragmentseparator (FRS) möglich. Die Messung des Wippenpaares 205Tl81+ wurde bereits in den 1980er Jahren vorgeschlagen, konnte aber erst jetzt, nach jahrzehntelanger Vorarbeit durchgeführt werden.

„Die experimentelle Bestimmung der Übergangsstärke ermöglichte es uns, die Raten, mit denen das Wippenpaar 205Tl-205Pb unter den in AGB-Sternen herrschenden Bedingungen arbeitet, genau zu modellieren“, sagt Dr. Riccardo Mancino, der die Berechnungen als Postdoktorand an der Technischen Universität Darmstadt und bei GSI/FAIR im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 1245 durchgeführt hat.

Enge Zusammenarbeit zwischen Experiment, Theorie und Modell

Blick in den Experimentierspeicherring bei GSI/FAIR
Blick in den Experimentierspeicherring bei GSI/FAIR

Die 205Pb-Produktionsausbeute in AGB-Sternen wurde von Forschenden des Konkoly-Observatoriums in Budapest (Ungarn), des INAF Osservatorio d'Abruzzo (Italien) und der Universität Hull (Großbritannien) abgeleitet, indem sie die neuen 205Tl-205Pb-Zerfallsraten in ihre modernen astrophysikalischen AGB-Modelle implementierten. Dadurch können sie mit großer Sicherheit vorhersagen, wie viel 205Pb in AGB-Sternen produziert wird und in die Gaswolke gelangt, aus der unsere Sonne entstanden ist. Durch den Vergleich mit der Menge an 205Pb, die wir derzeit aus Meteoriten ableiten, ergibt das neue Ergebnis ein Zeitintervall von zehn bis zwanzig Millionen Jahren für die Entstehung der Sonne aus der vorgelagerten Molekülwolke.

„Dieses Ergebnis zeigt, wie wichtig eine enge Zusammenarbeit zwischen Experimentator:innen, Theoretiker:innen und Modellierer:innen ist, die den Kern der Forschung im Rahmen unseres Sonderforschungsbereichs (SFB 1245) bildet, um grundlegende Fragen über unser Universum zu beantworten“, sagt Professor Gabriel Martínez-Pinedo, der sowohl an der TU Darmstadt als auch dem GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung forscht.

Die Publikation

Leckenby, G., Sidhu, R.S., Chen, R.J. et al.: High-temperature 205Tl decay clarifies 205Pb dating in early Solar System. Nature 635, 321–326 (2024). https://doi.org/10.1038/s41586-024-08130-4

GSI Helmholtzzentrum/TU Darmstadt